16.03.2023 – Bis 2030 will die Bundesregierung nach aktuellen Plänen 80 Prozent des Stromverbrauchs im Land durch Erneuerbare Energien abdecken, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 noch erreichen zu können. Nicht nur die Energiewirtschaft hat Zweifel angemeldet, dass dies gelingen kann. Branchenübergreifend fordern 92 Prozent der Unternehmensverantwortlichen, den Ausbau noch stärker und vor allem zielgerichteter voranzutreiben. Rund zwei Drittel bemängeln fehlende Transparenz in Hinblick auf Status quo und konkrete Maßnahmen zur Erreichung von Klimaschutzzielen. Dies sind Ergebnisse einer aktuellen Studie der Managementberatung Horváth, für die 100 Topführungskräfte großer deutscher Unternehmen befragt wurden sowie ergänzend 80 Managerinnen und Manager aus sieben weiteren Ländern.
Die für die Horváth-Studie befragten deutschen Führungskräfte bezweifeln zum Großteil, dass Transparenz darüber besteht, in welchen Bereichen – von Industrie und Landwirtschaft bis hin zu Wohnen und Verkehr – Deutschland in puncto CO2-Emissionen vor dem Hintergrund der Energiekriese aktuell genau steht und welche Maßnahmen konkret ergriffen werden müssen, um bis 2045 Klimaneutralität zu erreichen. 64 Prozent geben diese Einschätzung in der Studie zu Protokoll. Nahezu Einigkeit besteht bei den Befragten weiterhin darin, dass der Ausbau Erneuerbarer Energien dafür noch stärker gefördert werden müsste (90 Prozent).
„Die von der Bundesregierung verkündeten Programme und Pläne ergeben für viele Verantwortliche aus der Wirtschaft noch kein überzeugendes Gesamtbild und erscheinen angesichts des steigenden Energiebedarfs auch nicht ausreichend“, sagt Helmut Ahr, CEO der Managementberatung Horváth. Als Beispiel nennt Ahr die angekündigten 10.000 neuen Windräder, die bis 2030 durch das Beschleunigungsgesetz für schnellere Genehmigungsverfahren installiert werden sollen. „Das klingt viel, ist bei genauerer Betrachtung aber gebotenes Mindestmaß und im internationalen Vergleich auch nicht besonders ambitioniert“, so der Vorstandssprecher. Besonders optimistisch, dass Deutschland beim Thema Erneuerbare Energien künftig noch einmal Maßstäbe setzt, sind die Unternehmen nicht, wie die Studie weiter zeigt. 60 Prozent halten es für unrealistisch, dass Deutschland seine einst führende Rolle innerhalb der kommenden zehn Jahre wiedererlangen kann.
Kanada sieht sich vorn, USA ziehen nach
Wie die internationale Vergleichsbefragung der Horváth-Studie offenbart, trauen kanadische Unternehmen ihrem Land am ehesten die globale Spitzenposition zu. Zwei Drittel der dort befragten Topführungskräfte sehen Kanada bei Erneuerbaren Energien in zehn Jahren global vorn. Dieses Selbstbewusstsein erscheint gerechtfertigt. Bereits jetzt liegt der Anteil an Erneuerbaren Energien am Gesamtverbrauch in Kanada bei zwei Dritteln. Gewonnen wird der grüne Strom vor allem durch Wasserkraft. Kanada plant, bereits 2025 zu 100 Prozent Ökostrom zu nutzen, unter anderem durch den Zubau von Windenergie und Solarparks. Die Integration erfolgt unterstützt von 30 Wasserstoff-Hubs. Im Nachbarland USA sieht bislang zwar nur ein Drittel der befragten Führungskräfte für ihre Volkswirtschaft das Potenzial, international eine führende Rolle bei Erneuerbaren Energien einzunehmen. Doch das kann sich schnell ändern. „Durch die neuen politische Weichenstellung im Rahmen des Inflation Reduction Act in den USA sowie Wachstumsfonds und Steuererleichterungen in Kanada wird der gesamte nordamerikanische Markt enormes Potenzial entfalten, insbesondere durch den Zubau von Windanlagen und Investitionen in die Wasserstoffproduktion“, so Horváth-CEO Helmut Ahr. „Für die deutsche Energiewirtschaft ist das eine extrem relevante Entwicklung. Hier sollten mit Priorität Investitionsfelder identifiziert und priorisiert werden und strategische Partnerschaften geschlossen werden.“
Großbritannien prescht vor
Innerhalb Europas zeigen sich Großbritannien und Spanien besonders zuversichtlich, was ihre zukünftige Rolle angeht. Hier gehen jeweils 60 Prozent der befragten Führungskräfte von einer Spitzenposition ihres Landes aus. Das Vereinigte Königreich hat rapide aufgeholt und seinen Anteil an Erneuerbaren Energien am gesamten Stromverbrauch seit 2019 innerhalb von zwei Jahren von 12 Prozent auf 40 Prozent gesteigert, vor allem durch den Ausbau von Windkraft. Über das 2021 in Betrieb genommene Unterwasserstromkabel „North Sea Link“ kann überschüssige Windenergie nach Norwegen exportiert und bei Flaute Wasserkraft von dort auf die Insel geleitet werden. Durch eine Beschleunigung der Ausschreibungen wird die Windkraft weiter massiv ausgebaut, daneben Solarkraft und Biomasse gefördert. Damit erscheint Großbritanniens Ziel einer komplett grünen Stromversorgung bis 2035, wie auch in Deutschland anvisiert, überaus realistisch. Ähnlich ambitioniert sind Irlands Windkraft-Ausbaupläne. Bis 2050 sollen mit neu zu installierenden Offshoreparks 30 Gigawatt Strom erzeugt werden. Spanien hingegen, mit einem Anteil von fast 47 Prozent erneuerbar produziertem Strom aktuell auf dem Niveau von Deutschland, setzt auf den Ausbau von Photovoltaik. Doch es hakt an der Bürokratie.
„Der Wettstreit um grüne Energieträger, strategische Partnerschaften und Speichertechnologien ist in vollem Gang. Wenn Deutschland nicht ins Hintertreffen geraten will, ist die Politik gefragt, mit absoluter Priorität die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen“, so Horváth-CEO Helmut Ahr. „Die gute Nachricht: Die Wirtschaft ist bereit, notwendige Preiserhöhungen zu tragen und stabil genug, sie zu verkraften. Zudem treiben die Unternehmen ihre eigenen Klimaziele mit Hochdruck voran und sind optimistisch, sie zu erreichen.“ Größte Hürde für die Erreichung der Dekarbonisierungsziele in Deutschland wird für die Industrie aber nicht der Umbau des größer werdenden Strommarkts werden (durch Elektromobilität und Power-to-Heat via Photovoltaik), sondern die Einsparungen und Ablösung der Energieträger Öl, Kohle und Gas. Diese machen heute noch immer die vierfache Menge gegenüber Stromerzeugung aus.
Über die Studie
Für die aktuelle Horváth-Studie „Nachhaltigkeit im internationalen Vergleich“ wurden international 180 Topmanager und -managerinnen befragt, davon 100 aus Deutschland. Die Führungskräfte stammen aus Unternehmen mit mindestens 100 Millionen Euro Jahresumsatz, branchenübergreifend. Die Interviews wurden im Dezember 2022 durchgeführt.