13.06.2024 – Zahleiche blau-schwarze Photovoltaik-Panels zieren das Dach des neuen Industriegebäudes von Phoenix Contact in Blomberg. Am Horizont in Richtung Süden drehen sich Windräder. Auf dem Verkehrskreisel vor dem Werksgelände folgt ein großer Solartracker dem Stand der Sonne im Tagesverlauf. Mit der Eröffnung des All Electric Society Parks im vergangenen Jahr zeigt das Familienunternehmen, dass die All Electric Society nicht nur eine Zukunftsphantasie, sondern erlebbare Wirklichkeit sein kann. Auf 7800 Quadratmetern Fläche erfahren Besucher an interaktiven Stationen, wie Sektorenkopplung für den optimalen Fluss von regenerativer Energie sorgt. „Neben technischen Beispielen, die demonstrieren, wie die Energiewende umgesetzt werden kann, möchte Phoenix Contact aufzeigen, dass die Energiewende als Zielbild der All Electric Society eine lebenswerte Welt darstellt, die nicht auf Verzicht basiert“, sagt Frank Stührenberg, CEO von Phoenix Contact. „Vielmehr ist nachhaltiger Wohlstand für alle möglich.“
Der All Electric Society Park ist der erste Schritt – der zweite das neue Industriegebäude an der Flachsmarktstraße, das Gebäude 60 in Blomberg. Noch hat das Gelände vielerorts Baustellencharakter, viele Arbeitsschritte sind aber bereits abgeschlossen. Rainer Durth, Fachleiter für Schutztechnik, war vom ersten Roundtable bis heute bei Planung und Umsetzung dabei. Ein weiterer leitender Kopf ist Matthias Unruhe, Abteilungsleiter im Facility Management. Er ist als Projektleiter für die Umsetzung der technischen Gebäudeausstattung verantwortlich.
„Besonders für industrielle Liegenschaften mit hohem Energieverbrauch und großen Dachflächen bietet sich die Energieerzeugung durch Photovoltaik an“, betont Rainer Durth. „Wer Erzeuger und Verbraucher im Gebäude intelligent vernetzt, kann den Energiezufluss aus dem öffentlichen Energieversorgungsnetz minimieren.“ Das gilt für alle erneuerbaren Energien: Noch ragen vor dem Gebäude die Kabel aus dem Boden, aber in Kürze werden sich hier grüne Aeroleaves an den stählernen Zweigen eines so genannten „Wind Tree“ drehen. Sie sind nach Angaben von Phoenix Contact doppelt so empfindlich wie herkömmliche Windturbinen und können dadurch auch schwache Luftbewegungen nutzen, die im städtischen Umfeld und rund um Gebäude zirkulieren.
Wärmeenergie aus Erde, Wasser und Luft
Unruhe erläutert die Hochleistungswärmepumpen im Keller von Gebäude 60. Auch sie nutzen den regenerativ erzeugten Strom – aber nur zu einem kleinen Teil: Nur ein Viertel der Energie, die eine Wärmepumpe erzeugt, muss der Mensch über elektrische Energie zuführen, den Rest entzieht sie der Umwelt. Neben dem Eingangsbereich ragen dunkle Energiezäune in die Höhe, die Wärme aus Luft, Wind und Regen gewinnen. Der Clou des Systems liegt jedoch unter der Erde. Nur eine kreisrunde Fläche im Südosten des Gebäudes ohne Pflanzenbewuchs weist noch darauf hin. „Dort unten liegt unser Eis-Energiespeicher“, erklärt Unruhe. „Eine Zisterne mit 1700 Kubikmetern Fassungsvermögen, 19 Meter im Durchmesser und 6 Meter tief.“ Der Eis-Energiespeicher nutzt das Phänomen, das beim Phasenübergang des Wassers von flüssig zu fest auftritt: Kristallisationsenergie wird frei. „Beim Gefrieren von Wasser wird genauso viel Energie im Eis gespeichert wie ich zum Erwärmen des Wassers von 0°C auf 80°C benötigen würde“, so Unruhe. Eine Wärmepumpe mit Eis-Energiespeicher ist daher viel effizienter als eine reine Luft-Wasser-Wärmepumpe. Die geeignete Anordnung und Steuerung der Wärmetauscher sorgen dafür, dass der Betonbehälter nicht vollständig durchfriert und platzt, wenn sich das Wasser beim Gefrieren ausdehnt. Vieles ist hier anders, aber eines hat auch dieses System mit gewöhnlichen Wärmepumpen gemeinsam: Ihr effizienter Einsatz zur Gebäudekühlung im Sommer und für das Heizen im Winter basiert immer auf dem Ausgleich mit einem Medium außerhalb des Gebäudes, egal ob Luft, Erde oder Wasser/Eis. Das Medium wird beim Heizen im Gebäude abgekühlt und beim Kühlen des Gebäudes aufgewärmt. „Dabei ist der Wirkungsgrad bzw. die Leistungszahl der Wärmepumpe immer dann besonders gut, wenn die jeweilige Temperaturdifferenz von Vorlauf- und Rücklauftemperatur, die so genannte Spreizung, möglichst gering ist“, erklärt Unruhe. Optimal ist also ein möglichst kühles Außenmedium im Sommer und ein möglichst warmes Medium im Winter. „Vor der Heizperiode wird das Wasser im Eis-Energiespeicher auf 25 °C aufgeheizt, vor dem Sommer muss es zu 80 % vereist sein.“ Bei guten Wetterbedingungen deckt der derzeitige Ausbau der regenerativen Energiequellen durch Sonne und Wind den Energiebedarf des Gebäudes vollständig. Unter ungünstigen Bedingungen, etwa bei Dunkelflaute, ist die energetische Lücke noch erheblich.
Kreislaufwirtschaft mit Second-Life-Batterien
„Besonders für Industrieunternehmen ist es interessant, überschüssigen Strom zu speichern. Die Unternehmen können damit Lastspitzen gegenüber dem öffentlichen Versorgungsnetz ausgleichen und so erhebliche Betriebskosten sparen“, erklärt Durth. Auch dabei geht Phoenix Contact ungewöhnliche Wege und hat sich mit einem Start-up zusammengetan, das mit ausgemusterten Batterien aus dem Automobilbereich Batterie-Energiespeicher-Systeme für Gewerbe und Industrie baut. Rainer Durth deutet auf einen unscheinbaren weißen Container vor dem Gebäude. In seinem Inneren stapeln sich Racks mit Second-Life-Batterien. „Wenn Batterien 80 Prozent ihrer Restkapazität erreicht haben, werden sie im Automobilbereich ausgemustert“, so Rainer Durth. Dort sind sie hohen Belastungen ausgesetzt. Sie müssen nicht nur den extremen Temperaturunterschieden in Sommer und Winter standhalten, sondern auch blitzschnelle Be- und Entladevorgänge bei Vollbremsung und Vollgas bewältigen. „Dadurch altern Autobatterien schneller und müssen früher ausgemustert werden als im Gebäude“, so Durth. Für den hiesigen Einsatz reicht eine Restkapazität von 80 Prozent daher vollkommen aus: „In einem klimatisierten Container müssen diese Batterien weder starke Temperaturschwankungen aushalten noch extreme Höchstleistungen vollbringen, sie halten quasi ewig.“
Gleich daneben stehen in Reih und Glied bidirektionale Ladesäulen, auch sie sind ein Baustein im Gesamtkonzept des Industriegebäudes der Zukunft. Hier fließt der Strom in beide Richtungen, das heißt: Die Dienstwagen von Phoenix Contact können hier nicht nur Strom tanken, sondern sie bzw. ihre Batterien dienen als Zwischenspeicher für den selbst produzierten Strom aus Gebäude 60.
Gleichstrom verbindet die Sektoren
Bei Batterien kennt es jeder: Ein Pluspol, ein Minuspol – und es fließt Gleichstrom. Die Stromnetze dieser Welt basieren jedoch auf Wechselspannung. Das hat seinen Ursprung im späten 19. Jahrhundert, als zwischen Thomas Alva Edison (Gleichstrom, DC) und George Westinghouse (Wechselstrom, AC) der sogenannte Stromkrieg tobte, die dahinter liegende Frage: Wie soll die großflächige Versorgung von Stromnetzen in der Zukunft aussehen? Die Wechselspannung machte damals das Rennen. Doch die heutige Welt ist eine andere: Die regenerative Energieerzeugung durch Photovoltaik basiert auf Gleichstrom. Windenergieanlagen verfügen über einen DC-Zwischenkreis. Fast alle Verbraucher in einem Industriegebäude nutzen Gleichstrom. Zudem müssen Batterie-Energiespeicher mit Gleichstrom gespeist werden – auch im Elektroauto. Und um Gleichstrom in Wechselstrom umzuwandeln und umgekehrt, gibt es Wandlungsverluste. Die Effizienz leidet. Nicht nur hier bei Phoenix Contact stellt man sich daher die Frage: Warum die Energie zwischen den Sektoren nicht direkt via DC übertragen? Genau das setzt das Familienunternehmen um und baut im Gebäude 60 neben dem üblichen AC-Netz ein weiteres elektrisches System auf Basis von Gleichstrom auf. „Forschungsprojekte wie DC-Industrie konnten bereits den Nutzen von Gleichstromsystemen in der industriellen Anwendung belegen“, führt Rainer Durth aus. Um hier tiefer einzutauchen, folgen wir dem Energiefluss hinab in den Keller, zur DC-Hauptverteilung. Dort wird nicht nur Gleichstrom aus der Photovoltaikanlage eingespeist, sondern beispielsweise auch die Rekuperationsenergie, die beim Abbremsen der Motoren aus der Produktion entsteht.
Vom Keller aus versorgt der Verteiler wiederum die Produktion, aber auch Batterien und Ladesäulen mit Gleichstrom. „In diesem Gebäude ist der Maschinenbau von Phoenix Contact untergebracht“, ergänzt Matthias Unruhe. „Die Einsparungen durch Rekuperation sind hier zwar nicht ganz so groß wie bei den großen Robotern in der Automobilindustrie, aber es lohnt sich.“ Weil in DC-Netzen weniger Leitungen mit einer geringeren Aderanzahl notwendig sind, um die gleiche Leistung zu übertragen, spart dies zudem Rohstoffe wie Kupfer ein. Viele große Automobilhersteller forschen daher schon seit Jahren in diesem Bereich und setzen vermehrt auf Gleichstromnetze – mit Komponenten von Phoenix Contact. Dabei kommt dem Blomberger Elektronikhersteller seine große Anzahl an DC-Komponenten zugute, ob Klemme, Stecker, Stromversorgung oder Leistungsschalter. Auch das Netzmanagement hier im Gebäude 60 übernimmt ein Produkt aus dem eigenen Haus, die PLCnext-Steuerung. Sie integriert Daten wie Stromkosten an den Strombörsen, Wettervorhersagen sowie tagesaktuelle Daten von der Messstation auf dem Dach in das Gebäude-Energiemanagement. Insgesamt erhoffen sich die Planer des Pilotprojektes noch weitere Einsparungen und Effizienzsteigerung. „Diese Anlage ist dabei auch ausdrücklich für Versuchszwecke und Betriebstests konzipiert“, ergänzt Rainer Durth. Denn Phoenix Contact engagiert sich schon seit Jahren für die Erforschung und Etablierung der Gleichstromtechnik und ist Mitglied der Open Direct Current Alliance (ODCA). (cst)