07.12.2023 – Das spanische Chemieunternehmen Ercros hat ein Power Quality-Analysesystem von Siemens in die eigenen Prozesse integriert. Damit sollen kostspielige Produktionsausfälle aufgrund von schwankender Spannung im eigenen 11-kV-Stromnetz vermieden werden können.
Was haben Seife, Aluminium und Rohrreiniger gemeinsam? Auf den ersten Blick nichts, schaut man sich jedoch die Herstellungsprozesse der Produkte an, wird klar: sie alle basieren auf Grundchemikalien wie Wasserstoffperoxid, Ammoniak und Natronlauge. Weltweit kommen die Chemikalien in der Weiterverarbeitung zum Einsatz, ihre Synthese ist jedoch aufwändig – und extrem energieintensiv. Chemieunternehmen wie Ercros aus Spanien stellt das vor eine Herausforderung: einerseits müssen Wasserstoffperoxid, Ammoniak, Natronlauge und Co. über kontinuierliche Spaltprozesse, die nicht unterbrochen werden dürfen, synthetisiert werden. Andererseits ist bekannt, dass die elektrischen Anlagen, die für die Prozesse zuständig sind, aufgrund von Oberschwingungen, Spannungsschwankungen oder -einbrüchen schnell ausfallen können. Die Folge wären langwierige Produktionsausfälle. Um das zu vermeiden, hat Ercros die Netzplanungsexperten von Siemens Power Technologies International (Siemens PTI) mit der Überwachung der Netzqualität in seinem Werk in Sabiñánigo beauftragt.
Fernzugriff über LTE-Funkstandard
Da Sabiñánigo ein Chemiewerk mit hohem Blindleistungsverbrauch ist, war schnell klar, dass die Projektpartner Kondensatoren und Filter installieren müssen, um die Stromqualität insgesamt verbessern zu können. In einem ersten Schritt wollten Siemens PTI und Ercros gemeinsam die erforderliche Anzahl von Aufzeichnungsgeräten und die idealen Standorte für die Messpunkte im Netz identifizieren. Schließlich entschieden sich die Projektpartner für die Installation und Einrichtung eines SICAM Q200 Netzqualitätsrekorders und dessen Fernanbindung an einen speziellen Siemens-Server. Der Fernzugriff erfolgt dabei per LTE-Funkstandard über die Siemens-VPN-Lösung SINEMA RC in Kombination mit dem Router SCALANCE M876. Die Messdateien der Rekorder werden zyklisch und vollautomatisch ausgelesen und lokal auf den Servern von Siemens gespeichert.
Neben dem Aufbau des Überwachungssystems für Spannungsmessungen an den Messstellen vor Ort hat Siemens PTI außerdem die Möglichkeit geschaffen, eine professionelle Analyse der Messergebnisse vorzunehmen. Dafür werden die erhobenen Daten ebenfalls über die VPN-Fernverbindung zyklisch ausgelesen und sicher an das Siemens-eigene Power Quality Analytics (PQA)-System übertragen. Das Analysesystem soll auf Basis eines komplexen Vergleichs mit historischen Daten drohende Veränderungen der Netzqualität erkennen und diese an die Verantwortlichen bei Siemens PTI und Ercros melden. Dafür nutzt es unter anderem Verfahren der Künstlichen Intelligenz sowie neuronale Netze, maschinelles Lernen und Deep-Learning-Schleifen. Ungewöhnliche Systemzustände sollen auf diese Art und Weise zuverlässig erkannt, für die Siemens PTI PQ-Experten vorklassifiziert und auf einem Dashboard visuell dargestellt werden können. Bevor jedoch die Analyse oder ein Alert an den Kunden gesendet wird, prüft ein Experte die vom System ermittelte Klassifizierung sowie die vorgeschlagene Diagnose.
Die Empfindlichkeit der Anomalieerkennung wurde dabei an die örtlichen Gegebenheiten angepasst. Zum Beispiel wurde eine Triggereinstellung bereits nach einigen Wochen manuell angepasst, um sicherzustellen, dass das Messsystem ein ideales Gleichgewicht zwischen Empfindlichkeit und Robustheit aufweist.
Mobile App für Echtzeit-Überblick
Darüber hinaus implementierte Siemens PTI eine mobile App in die Prozesse bei Ercros. Darüber erhält das Chemieunternehmen einmal monatlich einen zusammenfassenden Analysebericht sowie einen Echtzeit-Überblick über die Messungen und Analysen in Form von Diagrammen, Kurven oder Heatmaps. Die App stellt die Daten und Grafiken dabei über einen Webbrowser zur Verfügung. Auch erhält Ercros über die mobile Lösung Warnungen vor kritischen Ereignissen. Gleichzeitig leitet das PQA-System automatisch eine Warnung an die Experten von Siemens PTI weiter. Eine integrierte Kontaktfunktion erleichtert zudem den Informationsaustausch zwischen dem Kunden und Siemens.
Dass die Power Quality-Lösung wie geplant funktioniert, zeigte sich etwa acht Monate nach Implementierung der Anwendung: das intelligente PQA-System gab einen Alarm aus. Es stellt die sogenannte Total Harmonic Distortion (THD) fest. Die Analyse ergab dann, dass ein Schaltvorgang an einer Kompensationsanlage eine unerwünschte Auslösefunktion zur Folge hatte. Die PTI-Experten von Siemens bewerteten das Ereignis als wahrscheinlich kritische Situation mit schwerwiegenden längerfristigen Folgen und informierten Ercros daraufhin umgehend über die mobile App. Das Chemieunternehmen hatte damit genügend Zeit zu reagieren und weitere Störungen beziehungsweise sogar einen kompletten Prozessausfall zu verhindern.
Nach einer anschließenden Überprüfung der vorhandenen Daten und Systemanalysen, Abläufe und Korrelationen deutete alles auf die ungewollte Auslösung einer Auslösefunktion in der Blindleistungskompensationsanlage hin. Die Blindleistungskompensationsanlage wurde daraufhin schnell wieder in den Normalbetrieb versetzt. Die kritische Spannungsänderung wurde korrigiert. Abschließend erarbeiteten die Netzüberwachungsexperten von Siemens PTI einen verbesserten Schutzplan sowie eine Schaltstrategie, die die Fehlerquelle beseitigt und damit weitere Störungen bereits von vornherein verhindern soll. Aufgrund der hohen Funktionalität des Systems entschied sich Ercros daraufhin, auch sein Werk in Vilaseca mit der Siemens-Lösung auszustatten und insgesamt vier weitere Messstellen in Betrieb zu nehmen. (jr)